Für mich, jemand der 1996 geboren ist, ist die Wendezeit, die friedliche Revolution und die deutsche Einheit etwas, was ich vom Hören und Sagen kenne. Egal welche Familienfeier, zu einem gewissen Zeitpunkt schwelgen meine Verwandten in der Erinnerung an ihre Zeit in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Ja, meine gesamte Familie kommt aus dem Osten. Besonders meine Großeltern sind dabei gespalten. Später mehr dazu.
Als erstes möchte ich festhalten, dass mir bisher die Tatsache, dass ich aus dem Osten komme, nie zum Nachteil geworden ist. Für mich gibt es kein zwei geteiltes Deutschland. Keine neuen oder alten Bundesländer. Ich fühle mich als Europäer, der in Deutschland wohnt und in Thüringen geboren ist. Dieses Wissen, dass doch diese Unterscheidung gemacht wird, ist durch mein Geschichts- und Sozialkundeunterricht sowie von Erzählungen mir bewusst. Mir ist auch bewusst, dass Unterschiede im Lohngefüge, Rentennievau und in der Lebensqualität zwischen Ost und West bestehen, welche für mich weder rational noch irrational begründbar sind. Diese Ungleichheiten verstehe ich nicht. Dieses Argument, dass die Lebensunterhaltungskosten im Osten niedriger seien und so einen niedrigeren Stundenlohn als im Westen rechtfertigt, macht mich jedes Mal fassungslos. Egal, was oder wo ein Mensch arbeitet, ist gleich viel wertvoll und verdient eine respektvolle Entlohnung. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal wo.
In meiner Kindheit, auch bis heute, verbrachte ich viel Zeit mit meinen Großeltern mütterlicher Seite. Sie haben eine DDR-Biografie, welche mit der Wende gebrochen wurde, empfindlich. Meine Großeltern waren in der Landwirtschaft tätig. Mit der Wende war das zu Ende. Mein Großvater, der gelernter Maurer ist, konnte im Straßenbau Fuß fassen bis es sein Körper nicht mehr zu ließ. Meine Großmutter hatte einen Beruf in der Papierherstellung gelernt, den es nach der Wende nicht mehr offiziell gab. Sie machte einige ABMs (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) mit, um schließlich als Reinigungskraft im Niedriglohnsektor zu arbeiten. Viele würden sagen, dass dies die klassische gebrochene Erwerbsbiografie sei. Beide waren schon über 50 Jahre alt als mein Großvater seinen LKW-Führerschein machte und meine Großmutter eine Umschulung als Pflegehilfskraft absolvierte, um weiterhin arbeiten zu können, sodass sie bis zur Rente nicht arbeitslos sein würden. Sie arbeiteten hart für wenig Lohn. Doch sie gaben nicht auf. Mein Großvater profitierte von der Rente mit 63 (Die SPD setzte dies durch), meine Großmutter in naher Zukunft davon ebenfalls profitieren. Die Rente reicht aus, um zu leben. Dennoch machen mich diese zwei Biografien nachdenklich. Immer wieder erzählten sie mir von ihrem Leben in der DDR. Mehrmals besuchten wir Gedenkstätten oder Museen, die das Leben an der Grenze und in der DDR widerspiegelten. Dabei wurden Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen den beiden deutlich. Meine Großmutter fühlte sich gefangen, wie in einem Käfig wie sie selbst sagte. Mein Großvater fühlte sich sehr wohl in der DDR und sehnt sich zurück. Ich glaube, ich kann beides nachvollziehen. Die fehlende Freiheit der eigenen Person sich eigenständig zu entwickeln und frei bewegen zu können und das Gefühl, dass es keinen Unterschied macht, ob jemand Akademiker oder Arbeiter ist, dass jede Arbeit gleichwertig ist, ist heute noch nicht existent. So habe ich ihre Sichtweise verstanden. Doch ist es in einer freien Demokratie und sozialen Marktwirtschaft nicht möglich beides endlich in Einklang zu bringen? Ich finde schon, deshalb bin ich politisch aktiv. Es ist noch ein langer Weg dahin.
Derzeit bin ich durch mein Praxissemester in Nürnberg. Ein Ort, welcher historisch eine prägende Rolle in der deutschen Geschichte spielte. Ein Ort, an dem sich viele Menschen an ihrer menschlichen und arischen Selbstüberlegenheit ergötzten. Menschen, die glaubten, dass andere Menschen minderwertiger sind als sie, weil sie anders glaubten oder anders aussahen. Es ist der Punkt in der Geschichte, der viel Leid über die Menschheit brachte und noch bis heute schmerzt. Für mich der wahre Grund, warum wir heute von Ost und West sprechen müssen. Der Grund, warum es zwei deutsche Staaten gab. Der Grund, warum wir Menschen in Ossi und Wessi deklinieren.
Wir müssen die Geschichte so annehmen, wie sie uns als Nachfahren weitergegeben wurde. Erinnern und nicht die gleichen Fehler wieder machen.
Dennoch, ich kann nichts mit dem Tag der deutschen Einheit anfangen. Der politische und gesellschaftliche Auftrag für gleiche Lebensverhältnisse und soziale Gerechtigkeit zu schaffen, ist für mich keine Frage der Himmelsrichtung, sondern des gemeinschaftlichen Miteinanders. Nicht das gegeneinander Ausspielen von Ost und West. Wir sind eine Gesellschaft.
Der 9. November 1989 verlangt mir sehr viel Respekt ab. Dazu ist meine Meinung anders. Ich betrachte die zwei Tage unterschiedlich.
Bild: Reichsparteitagsgelände des NS-Regimes in Nürnberg